Für so etwas braucht man Zeit, ganz viel Zeit. Auf den ersten Blick sehen die Figuren auf dem Schachbrett aus wie ganz normale Schachfiguren. Auch auf den zweiten und dritten Blick. Doch beim ganz genauen Hinsehen offenbart sich das Geheimnis: Die Figuren sind aus Brot gefertigt, mit den Fingern geformt, am Ende mit einer Art Lack überzogen. Die Zeit dafür hatte der unbekannte Künstler, der die Schachfiguren angefertigt hat, im Überfluss: Er saß im Gefängnis.

Das Schachbrett mit seinen Figuren aus Brot war einer der Hingucker bei der Veranstaltung in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gelsenkirchen: Dort wurde jetzt die „Knastkulturwoche 2022“ eröffnet. Dabei handelt es sich um ein NRW-weites Projekt, an dem Gefängnisse im ganzen Land teilnehmen. „Kulturelle Angebote während der Haftzeit eröffnen Gefangenen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person, können insbesondere Perspektiven und Erfolgserlebnisse schaffen und so einen wichtigen Beitrag zur Resozialisierung leisten“, heißt es in der Projektbeschreibung des Justizministeriums. Insgesamt beteiligen sich 19 nordrhein-westfälische Justizvollzugsanstalten an der diesjährigen Knastkulturwoche.

Gelsenkirchener JVA setzt auf Beteiligung der Gefangenen

Schachfiguren aus Brot
Schachfiguren aus Brot: Auch dieses in Russland hergestellte Exponat ist in der Gelsenkirchener JVA zu sehen.
© FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

In Gelsenkirchen hat sich Tanja Biemüller um die Organisation der Veranstaltung gekümmert. Sie ist Integrationsbeauftragte in der JVA an der Aldenhofstraße und hat die Insassen in den vergangenen Monaten dazu animiert, Kunstwerke zu erschaffen, die dann im Rahmen der Kulturwoche ausgestellt werden sollen.

„Es war mir wichtig, den Gefangenen eine Gelegenheit zu geben, einmal zu zeigen, was sie können“, sagt Biemüller. Man hätte anlässlich der Kulturwoche auch die Möglichkeit gehabt, Bühnenkünstler ins Gefängnis zu holen. „Ich hätte beispielsweise auch Torsten Sträter buchen können“, sagt Biemüller. „Aber ich fand es besser, etwas anzubieten, an dem die Gefangenen selbst beteiligt sind – und zu dem sie Feedback bekommen.“ Feedback gibt es in Form einer Abstimmung: Die Besucher der Ausstellung konnten wählen, welches Werk ihnen am besten gefallen hat.

Gefängnisleiterin Elisabeth Nubbemeyer: „Die Gedanken sind frei“ Die Bilder, Skulpturen, Collagen und sonstigen Kunstwerke, an denen teilweise wochenlang gearbeitet wurde, wurden jetzt ausgestellt. Claudia, die seit zweieinhalb Jahren hinter Gittern ist, hat gemeinsam mit sechs anderen weiblichen Gefangenen ein großformatiges Bild auf einem Bettlaken gestaltet. Unter dem Motto „Tor zur Freiheit“ haben die Künstlerinnen auf das Laken Begriffe geschrieben, die sie mit der Haft verbinden: „Freistunde“, „Umschluss“, „Reststrafe“ oder „Ausdauer“. Zentrales Element ist ein großes, aufklappbares Tor, hinter dem sich ein blühender Baum verbirgt, der den Weg in die Freiheit symbolisieren soll. „Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr in den offenen Vollzug komme“, sagt Claudia.

Barry, ebenfalls Gefangener der JVA, hat sich von dem Schachbrett aus Brot inspirieren lassen, das ein Justiz-Angestellter aus einem Gefängnis in Russland mitgebracht hat. Auch er hat Skulpturen aus Brot gefertigt, allerdings noch nicht so kunstvoll wie das Vorbild. Um die Perfektion der Schachfiguren zu erreichen, wird ihm wohl die Zeit fehlen – zum Glück, findet er. „Ich habe nur noch zehn Monate vor mir“, sagt er.

Zuvor hatte Elisabeth Nubbemeyer, Leiterin der Gelsenkirchener JVA, die Ausstellung eröffnet, die unter dem Motto „begrenzt – bewegt – befreit“ steht. „Die Begrenzung erfahren Sie hier jeden Tag“, wandte sie sich an die Gefangenen, „nicht nur durch den Knastalltag, auch durch die Sorgen, die Sie sich machen.“ Kunst wäre da ein guter Weg, mental aus der Situation herauszukommen. „Sie kann ein Ventil für die Sorgen sein.“ Sie zitierte ein bekanntes Volkslied: „Die Gedanken sind frei: Das kann Ihnen keiner nehmen.“